Über mir und vor mir ein blauer Himmel steige ich in das türkisfarbene Salzwasser, das mich trägt und fast ganz der Schwere enthebt, und schwimme auf den Horizont zwischen den kleinen Felseninseln aus rosa Granitsteinen zu. Wenn ich dann umkehre, sehe ich dunkle Wolken vom Land her schnell aufziehen, und wieder am Ufer angekommen, fallen Regentropfen vom Himmel. »Wetteronline« hatte das so nicht angekündigt. Im Nachhinein können Meteorologen die jeweiligen Vorgänge erklären, aber die Prognosen bleiben von Unwägbarkeit durchdrungen. Die meteorologischen Erklärungen haben darüber hinaus wenig mit dem Erleben zu tun. Dennoch wird der Meteorologe den Regenschauer auch in Badehose anderes erleben als ein Musiker oder ein Maler oder als ein Kind, das gerade selbstvergessen eine Sandburg gebaut hat. Auch das Erleben ist nicht voraussetzungslos und nicht ausschließlich ein Sinneserlebnis. Mein Erleben von überraschenden Wetterphänomenen ist durch die wiederholte Lektüre eines Vortrags geprägt, den Rudolf Steiner am 26. November 1922 gehalten hat.
Freilich handelt der Vortrag zunächst von etwas ganz anderem, nämlich von der Verwandlung des Menschen beim Übergang aus der vorgeburtlichen in die irdische Welt. Ein Dasein ohne den Unterschied von Innen und Außen, ohne Schwerkraft und ohne Sprechen und Denken geht in ein Dasein über, in dem Steine nach unten fallen und es Kraft kostet, sich aufzurichten. Unsere geburtliche Welt ist eine Welt, in der es den Unterschied von Möglich und Unmöglich gibt und in der Menschen im Wissen um das Gute auch das Böse tun können. Ganz anders ist die Welt des Umkreises, des Lichts und des Lebens in Beziehungen zu anderen Menschen und den vielfältigen Engelwesen einer göttlichen Welt. Die Sympathien und Antipathien dieser Wesen ziehen uns an, wie hier die Schwerkraft, aber diese Anziehung geht von keinem Zentrum aus, sondern von vielfältigen Orten. Diese Vielfalt orientiert uns in der dortigen Welt, in der es keine fallenden Steine gibt, und keinen Unterschied zwischen dem Natürlichen und dem Moralischen, weil alles, was dort ist, moralisch ist. Das aus dieser Welt herausgeborene Kind aber muss die Moral, die es weitgehend vergessen hat, erst langsam wieder erinnern lernen, und dabei helfen ihm die Erwachsenen. Immanuel Kants berühmtes Wort von den zwei Dingen, die das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht erfüllen, »der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir«, dieses Wort, es hat vielleicht noch eine tiefere Dimension als sie dem Philosophen bewusst war. Aber die Zusammengehörigkeit dieser beiden Dinge war für ihn mehr als Theorie, nämlich unmittelbar mit dem Bewusstsein seiner Existenz verbunden.
Eine Zeitung hat neulich getitelt: »Wie ich meinen Kindern erkläre, warum man nichts Böses tun sollte«. Das Problem stelle sich, weil man heute ja den Kindern nicht mehr mit der Hölle drohen könne. – Ja, es ist viel schwerer, sie statt dessen phantasievoll und doch glaubwürdig an den Himmel zu erinnern, aus dem sie gerade gekommen sind. Auch wenn es unmöglich ist, aus der Naturwissenschaft heraus Moral zu begründen oder eine vorgeburtliche Welt zu objektivieren, so ist ein solcher Daseinsbereich doch so darstellbar, dass im Erwachsenen Erinnerungen wach werden können. Für mich stellt sich weniger die Frage, ob das alles denn »wirklich« so ist, als die Frage, wie sich dann bei solchen kaum ausdenkbaren Unterschieden zweier Daseinsbereiche ein Übergang aus dem einen in den anderen, sei es im Geborenwerden, sei es im Sterben vollziehen kann. Und was verdeckt uns denn in der Regel den Blick in den anderen Daseinsbereich?
Jenseits spricht das Weltenwort in uns und braucht zu diesem Sprechen keinen physischen Atem. Diesseits tun wir den ersten Atemzug mit einem Schrei und lernen langsam das Sprechen, das an den Atem gebunden ist. Beide Daseinsbereiche haben ihre Ordnung, ihre Gesetzmäßigkeiten. Was liegt dazwischen und hält sie auseinander und bewahrt sie vor der Konfusion? Steiner beschreibt diese Grenze selbst als eine Chaoszone, als eine Verwirbelung der so unterschiedlichen Gesetze. Diese Chaoszone ist das Meteorologische, der Luft-Atem der Erdatmosphäre, der ja auch vordergründig sinnlich die Erde von der Sternenwelt trennt. Das Wetter in seinen extremen Formen ist wie eine Grenzzone zwischen dem, was der irdische Mensch und dem, was der himmlische Mensch erlebt. Wo es hier kleine Lücken in der Grenze zwischen den beiden Gesetzmäßigkeiten gibt, toben die Stürme und zucken die Blitze. Oder es glühen verflüssigte »Steine« und fallen nach oben. Wir nennen das dann Vulkanismus. Jede der beiden Welten hat also ihre ganz eigene Gesetzmäßigkeit, und dazwischen liegt ein Bereich der Gesetzlosigkeit, eine Zone des Unberechenbaren. Durch eine Chaoszone in metaphorischem Sinn muss aber nun auch unsere Vorstellungskraft hindurchgehen lernen, denn wir sprechen jetzt ja nicht von der astronomischen Realität, in die die Raketen geschossen werden, sondern von einer himmlisch-göttlichen Welt, deren Wirklichkeit gleichsam die Rückseite der sichtbaren Sternenwelt bildet.
Der Vortrag, von dessen Lektüreerlebnis ich hier erzählt habe, befindet sich in dem Band GA 219 der Gesamtausgabe »Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt«.
| Dr. Jörg Ewertowski
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